Aachen (dpa)

Streckenarchitekt: „Sind ja nicht der Berliner Flughafen“

Interview: Martin Moravec, dpa
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Von Interview: Martin Moravec, dpa
| 02.04.2020 06:04 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 7 Minuten
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Austin, Baku, Singapur - Hermann Tilke ist für die Formel 1 weltweit im Einsatz und entwirft Rennstrecken. Im dpa-Interview spricht er unter anderem über die legendäre Nordschleife, Termindruck und die Unterschiede bei Brandschutzvorschriften.

Hermann Tilke hat für die Formel 1 Träume auf Asphalt verwirklicht. Der Bauingenieur ist DER Streckenarchitekt der Motorsport-Königsklasse. Sein neuester Kurs in Hanoi sollte an diesem Wochenende eigentlich Premiere feiern.

Wegen der Coronavirus-Krise wurde der Grand Prix von Vietnam aber verschoben. „Es schmerzt sehr, dass dieser krönende Abschluss fehlt“, sagte Tilke (64) der Deutschen Presse-Agentur im Interview. Außerdem sprach er über seine Anfänge in der heimischen Küche, Überraschungen beim Baggern und den Sinn von Wollfäden beim Designen.

Herr Tilke, tut es weh, wenn speziell auf einer neuen Strecke wie in Hanoi an diesem Wochenende nicht gefahren werden kann?

Hermann Tilke: Das schmerzt unheimlich, denn daran arbeiten viele Leute von uns. Wir haben sogar noch immer Ingenieure und Architekten vor Ort, die den Abbau machen. Darin steckt seit fast anderthalb Jahren so viel Herzblut, auch weil bei einem Bau nicht immer alles reibungslos läuft. Es schmerzt sehr, dass dieser krönende Abschluss fehlt. Wenn das erste Auto beim ersten Freien Training auf die Strecke fährt und das Rennen am Sonntag gestartet wird, sind das immer Highlights.

Wie bitter ist es, wenn eine Strecke wie in Greater Noida in Indien vor sieben Jahren komplett von der Formel-1-Landkarte verschwindet?

Tilke: Dort fanden immerhin ein paar Rennen statt, das ist aber bitter. Wir haben eine innige Beziehung zu den Strecken und zu den Menschen vor Ort. In Hanoi ging die Arbeit vergleichsweise schnell, aber bei anderen Strecken arbeiten wir mit den örtlichen Kollegen teilweise drei Jahre zusammen. Es tut weh, wenn eine Strecke aus dem Formel-1-Kalender fällt. Die meisten Strecken werden danach trotzdem befahren. Schlimmer ist es, wenn auf einer Strecke wie in Indien oder der Türkei gar nicht mehr gefahren wird. Dann stellt sich so eine Leere ein.

Anfang der 1980er haben Sie erstmals an einer Strecke mitgebaut. Wie kam das?

Tilke: Ich habe mit 18 Jahren angefangen, Autorennen zu fahren, und habe dann studiert. Bei meiner ersten Stelle als Ingenieur habe ich aber sehr schnell festgestellt, dass ich für die Autorennen viel zu wenig Urlaub hatte. Ich habe gekündigt und mich selbstständig gemacht, mein erstes Büro war meine Küche. Dann habe ich angefangen, am Nürburgring Kleinigkeiten vorzunehmen, das fing mit der Ausbesserung eines Rettungswegs an, dafür gab es damals 600 Mark. Irgendwann haben die Leute gesagt: der Tilke, das ist ein Experte. Dann ging es zum Sachsenring, der unsere erste Rennstrecke war, die wir komplett neu gebaut haben, fast zeitgleich weiter zum heutigen Red-Bull-Ring und von dort ging es in die Welt.

Gibt das einen Adrenalinkick, wenn eine neue Strecke steht?

Tilke: Absolut. Immer wenn wir früher eine Strecke gebaut haben, dachte ich: Das ist jetzt die letzte, weil der Bedarf nicht so groß war. Aber es ging einfach immer weiter. Heute haben wir 19 Formel-1-Rennstrecken gebaut, insgesamt sind es sogar 92 Rennstrecken.

Gibt es für Sie eine perfekte Strecke?

Tilke: Die gibt es nicht, man muss immer Kompromisse finden. Eine Strecke kennzeichnen immer Einschränkungen. Ich kann nicht über die Grundstücksgrenze hinausplanen. Dann gibt es eine Topographie, die möglichst bewegt sein sollte, das ist sie aber nicht immer, manchmal ist ein Gelände eben flach. Dann gibt es ganz praktische Dinge, auf die wir achten müssen, wie vielleicht eine schöne Baumgruppe, die wir erhalten wollen.

Welche Beschränkungen haben Sie bei Ihrer Arbeit?

Tilke: Eine Rennstrecke braucht sehr viele Quadratmeter Boden, Fläche ist aber teuer. Der Investor oder Bauherr versucht uns daher immer Grundstücke zu geben, die kein anderer will. Also haben wir in der Regel fast immer schwierige Verhältnisse. Zwei weitere Dinge sind bei unserer Planung und unserer Arbeit ganz entscheidend. Das eine ist das Budget. Die meisten haben eine Budgetvorgabe und innerhalb dieses Budgets müssen wir arbeiten. Wenn irgendjemand eine Strecke kritisiert, dann muss man immer im Hinterkopf haben: Wieviel durfte sie überhaupt kosten? Sehr viel? Oder sehr wenig? Es gibt Formel-1-Rennstrecken für 150 Millionen Euro, aber es gibt auch Strecken wie in Abu Dhabi für eine Milliarde Euro. Das Zweite ist die Zeit. In der Regel ist es bei Formel-1-Rennstrecken so, dass bei unserem Planungsbeginn der Endtermin, meistens ist es der Monat, schon feststeht, in dem das Rennen stattfinden soll. Ein Rennen ist aber nicht verschiebbar, der Bauherr zahlt eine sehr hohe Strafe, wenn der Kurs nicht fertig ist. Die Zeit ist also immer sehr knapp bemessen, meist so um die zwei oder zweieinhalb Jahre, oder wie in Hanoi auch mal nur eineinhalb. Wir können aber nicht sagen, dass wir erst eine Woche später fertig werden, wenn etwas nicht geklappt haben sollte. Wir sind ja nicht der Berliner Flughafen. Wenn wir nicht fertig werden, würde uns auch keiner mehr einen Auftrag geben.

Welche Strecke hat Ihnen am meisten Sorgen bereitet?

Tilke: Der Kurs von Bahrain in Sakhir war technisch sehr kompliziert, weil dort der durch Jahrtausende zusammengedrückte Sand zu Sandstein geworden ist. Dieser Sandstein ist so hart, dass wir alles sprengen mussten. Es gab unter der Oberfläche teilweise Hohlräume, die durch Wasser ausgespült wurden. Wir haben irgendwo gebaggert und dann tauchte plötzlich ein Loch auf, das so groß wie zwei Einfamilienhäuser war.

Ist der Streckenbau eigentlich eine sinnliche Aufgabe?

Tilke: Er kann sehr sinnlich sein. Wenn das Gelände sehr bewegt ist, durch Berge zum Beispiel wie in der Türkei, ist es immer eine sehr spannende Aufgabe. Wir haben damals ein Modell gebaut und verschiedenfarbige Wollfäden darüber gelegt, um Streckenmöglichkeiten zu prüfen. Fahren wir hier rum oder fahren wir dort rum. Wir haben immer wieder diskutiert, abfotografiert und Bilder in den Computer geladen, um ein Gefühl für das Gelände zu bekommen. Wenn man die ersten Designansätze macht, ist das Haptische sehr wichtig, man möchte den Berg, um den man herumfährt, auch anfassen.

Wenn ich reich wäre und mir gerne einen Kurs bauen lassen würde, wie würde ich da vorgehen?

Tilke: Es kommt sogar relativ häufig vor, dass sich Menschen private Kurse bauen lassen. Sie müssen erstmal wissen: Wo wollen Sie das ganze haben? In welchem Land? Bei welcher Stadt? Oder sogar in der Stadt? Dann müssen Sie ein Grundstück finden. Wenn das Grundstück groß genug ist, kann man auf jedem Grundstück eine Strecke bauen. Wo ist es aber auch verkehrstechnisch möglich? Wo schließt man nicht zu viele Häuser mit ein, um eine Stadt nicht lahmzulegen? Wir wollen immer möglichst wenig in das Leben einer Stadt eingreifen. Wir brauchen mindestens zweieinhalb Monate, um einen Stadtkurs aufzubauen, wir veranstalten ja Baustellen in der Stadt. Schließlich fängt man mit den ersten Kostenvorstellungen an und von dort aus geht man immer weiter ins Detail, bis gebaut wird. Während eines Neubaus sind immer mindestens 20 Ingenieure vor Ort. Sie leben dort auch für ein oder zwei Jahre.

Bauen Sie Strecken für die Ewigkeit?

Tilke: Bauen ist gebaute Realität. Bauwerke überleben in der Regel viele, viele Jahre, egal welches Bauwerk. Ich mache mir da aber nicht immer Gedanken darüber, dass es so ist. Die Nordschleife gibt es schon seit 1927 und sie ist heute noch so, wie sie damals war. Man hat nur einige Modernisierungen vorgenommen, aber das Konzept und die Kurven sind gleichgeblieben. Bauen ist immer für eine kleine Ewigkeit bestimmt, ob es ein Einfamilienhaus oder eine Rennstrecke ist.

Müssen Sie sehr viele Bauvorschriften kennen?

Tilke: Die meisten Bauvorschriften haben sich angelehnt an den British Standard. In jedem Land sind aber zum Beispiel die Brandschutzvorschriften anders. Also schließe ich daraus, dass es überall anders brennt. Wir haben daher Partnerbüros, die uns bei den landestypischen Angelegenheiten beraten, weil sie selber nicht alle Bauvorschriften auf dieser Welt kennen können.

Arbeiten Sie zur Zeit eigentlich gerne im Homeoffice?

Tilke: Mir fehlt die direkte Kommunikation, mal in einem Büro vorbeizugehen, mal vorbeizuschauen und über Entwürfe zu reden. Wir haben 16 verschiedene Nationen bei uns im Büro und eine Diskussion verläuft einfach viel lebendiger, wenn man sich gegenübersitzt und nicht nur über das Telefon miteinander spricht.

ZUR PERSON: Hermann Tilke (64) ist Diplom-Bauingenieur. In der Formel 1 ist er der Streckenarchitekt Nummer eins. Neben Rennkursen auf der ganzen Welt entwirft er auch Krankenhäuser und Fußball-Stadien. Sein Sohn Carsten ist Teilhaber der Firma.

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