Berlin (dpa)

Corona-Warn-App: Die große Bewährungsprobe steht noch bevor

Christoph Dernbach, dpa
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Von Christoph Dernbach, dpa
| 23.09.2020 07:49 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Die Corona-Warn-App wurde im Juni als „ganz zentraler Baustein“ zur Bekämpfung der Pandemie angekündigt. Nach 100 Tagen heißt es oft, sie sei „kein Allheilmittel“. Klar ist: Die App funktioniert. Die Wirkung könnte aber viel höher sein.

Zum Start der Corona-Warn-App vor 100 Tagen hatte Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) die Latte sehr hoch gelegt. „Das ist nicht die erste Corona-App weltweit, die vorgestellt wird.

Aber ich bin ziemlich überzeugt, es ist die Beste“, sagte der promovierte Mediziner damals. „Sie herunterzuladen und zu nutzen, das ist ein kleiner Schritt für jeden von uns, aber ein großer Schritt für die Pandemiebekämpfung.“

Inzwischen kann sich die Corona-Warn-App noch mit einem weiteren Superlativ schmücken: In keinem anderen westlichen Land wurde eine vergleichbare Anwendung so häufig heruntergeladen wie die Anwendung des Robert Koch-Instituts.

Dennoch melden sich immer wieder Kritiker zu Wort, die die Wirksamkeit der App in Frage stellen. Diese Zweifel werden auch durch technische Unzulänglichkeiten genährt. Die Bundesregierung sowie Entwickler der Anwendung, SAP und Deutsche Telekom, ziehen trotzdem eine positive Bilanz nach 100 Tagen: Die Download-Zahlen seien ein „Vertrauensbeweis der Bevölkerung“.

Die App erfasst mit Hilfe von Bluetooth-Signalen, welche Smartphones einander nahe gekommen sind. Bluetooth wurde allerdings nie für diese Aufgabe entwickelt. Daher müssen die Macher der App mit Werten kalkulieren, die oft nicht genau sind.

Die Kontakt-Ermittlung via Bluetooth ist aber nicht die einzige Funktion der App. Die Anwendung berechnet auch das Risiko, das sich aus der Gesamtzeit aller Risikobegegnungen der vergangenen 14 Tage ergibt. Außerdem kann sie Testergebnisse digital empfangen, schneller als auf herkömmlichen analgen Wegen. Wenn die App in einem roten Feld ein „erhöhtes Risiko“ anzeigt, erhalten die Betroffenen die Empfehlung, sich nach Hause zu begeben beziehungsweise zu Hause zu bleiben sowie mit ihrem Hausarzt, dem ärztlichen Bereitschaftsdienst oder dem Gesundheitsamt Kontakt aufzunehmen und dort das weitere Vorgehen abzustimmen.

Im Laufe der ersten 100 Tage hat diese Risikobewertung nicht immer zuverlässig funktioniert. So kam heraus, dass die App auf dem iPhone zeitweise Aussetzer hatte. Dadurch wurden manche Nutzer nicht oder zu spät gewarnt. Nach mehreren Anläufen wurde dieser Fehler in Zusammenarbeit mit dem iPhone-Hersteller behoben. Hoffnungen, dass Apple künftig auch ältere Modelle wie das iPhone 6 unterstützen wird, wurden allerdings enttäuscht. Der US-Konzern wolle die technischen Schnittstellen nicht auf ältere Modelle erweitern, auch weil zum Teil die Hardware-Voraussetzungen nicht ausreichten, erklärte SAP-Technikchef Jürgen Müller.

Dass die App nicht auf allen Smartphones laufen kann, ist aber nur ein Grund, warum sie weit davon entfernt ist, die Bevölkerung flächendeckend zu warnen. In Umfragen sagen regelmäßig rund 50 Prozent der Menschen in Deutschland, dass sie keine Warn-App installieren möchten. Die App wurde nach Angaben des RKI inzwischen 18,4 Millionen Mal heruntergeladen. Dabei wird nur eine Installation pro Apple-ID beziehungsweise Google-Konto gezählt, also nicht die Downloads der Aktualisierungen.

Da manche Anwender die App auch wieder deinstalliert oder die Bluetooth-Signale abgestellt haben, fällt die Zahl der aktiven Benutzer niedriger aus. Experten schätzen, dass 15 Millionen Menschen in Deutschland die Anwendung aktiv nutzen. Das entspricht auch der Größenordnung der täglichen Zugriffe auf den Telekom-Server, wo sich die App alle 24 Stunden die Liste aller Tagesschlüssel der Smartphones herunterlädt, die in Verbindung mit positiven Testergebnissen stehen.

Gert G. Wagner, Mitglied des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen beim Bundesjustizministerium, macht folgende Rechnung auf: Wenn 25 Prozent der Erwachsenen die App heruntergeladen und tatsächlich aktiviert haben, dann werde von denen auch nur ein Viertel der Kontakte informiert, die unter Umständen infektiös sind. „Weil eben nur ein Viertel die App installiert haben und nicht alle. Daher muss man 0,25 mit 0,25 multiplizieren, das ergibt 0,0625. Das bedeutet, es wird ein wenig über sechs Prozent der Fälle überhaupt erfasst.“ Um auf einen Wert von 50 Prozent erfasster Fälle zu kommen, müssten mehr als 70 Prozent der Erwachsenen die Corona-Warn-App verwenden. Mit den deutlich niedrigeren Zahlen werde die App aber nicht irrelevant, „denn selbst sechs Prozent sind deutlich mehr als nichts“.

Die Anwendung könne allerdings besser als gedacht funktionieren, wenn nämlich Gruppen mit einem überdurchschnittlichen Infektionsrisiko die Anwendung häufiger nutzen würden als der Durchschnitt, gibt Wagner zu bedenken. Auf diesen Zusammenhang verweist auch Karl Lauterbach, der Gesundheitsexperte der SPD-Bundestagfraktion. „Die App wird unterschätzt“, sagte Lauterbach der Deutschen Presse-Agentur. „Für die erste Welle kam sie zu spät, für die zweite Welle zu früh.“ Die App könne noch einen großen Beitrag leisten, weil sie in der besonders betroffenen Altersgruppe stark genutzt werde.

Weil die Nutzungszahlen so entscheidend für den Erfolg der App sind, rief die Bundesregierung dazu auf, sie auch mit Blick auf den Herbst und Winter intensiver einzusetzen. „Bitte nutzen Sie dieses Werkzeug in der Pandemie“, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Dazu gehöre, bei einem eigenen positiven Testergebnis auch seine Kontakte darüber zu informieren. Bisher passiere dies nur in etwa der Hälfte der Fälle. Insgesamt hätten fast 5000 Nutzer eigene Kontakte auf diese Weise gewarnt, erläuterte Spahn. Bei je zehn bis 20 Kontakten hätten so einige Zigtausend Menschen informiert werden können.

Zu diesem Personenkreis gehört auch die Software-Unternehmerin Laura Sophie Dornheim, die zur kommenden Bundestagswahl für die Grünen in Berlin antreten möchte: „Wollte morgen mit zwei Freundinnen essen gehen“, schrieb sie auf Twitter. „Jetzt hat eine abgesagt, denn ihre CoronaWarnApp sieht rot. Ich hoffe, sie bleibt symptomfrei und bin sehr froh, dass die App hier min. zwei potentielle Ansteckungen vermieden hat!“

© dpa-infocom, dpa:200923-99-671910/5

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