Berlin (dpa)

Merkel verteidigt harte Einschnitte gegen Corona

| 29.10.2020 09:51 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Ein Teil-Lockdown soll die immer größere zweite Corona-Welle brechen, so haben es Bund und Länder beschlossen. Die Kanzlerin verteidigt die harten Eingriffe. Nicht nur deswegen flammt aber heftiger Streit auf.

Kanzlerin Angela Merkel hat alle Bürger vor den erneuten massiven Corona-Beschränkungen im November zur Solidarität aufgerufen und vor einer Verharmlosung der Lage gewarnt.

„Miteinander und füreinander, nur so kommen wir durch diese historische Krise“, sagte die CDU-Politikerin im Bundestag. „Der Winter wird schwer. Vier lange schwere Monate. Aber er wird enden.“ Die von Bund und Ländern beschlossenen Maßnahmen zur deutlichen Reduzierung von Kontakten seien „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“. Von der Opposition und aus der Wirtschaft kam teils scharfe Kritik. Dagegen hoffen Mediziner, Klinik-Überlastungen nunmehr besser abzuwenden.

Merkel sagte: „Wir befinden uns zum Beginn der kalten Jahreszeit in einer dramatischen Lage. Sie betrifft uns alle.“ In den vergangenen Wochen seien die Infektionszahlen „deutlich in die Höhe geschnellt“, viele Gesundheitsämter seien an der Belastungsgrenze. „Eine solche Dynamik wird unsere Intensivmedizin in wenigen Wochen überfordern.“ Die Zahl der Neuinfektionen erreichte mit 16.774 Fällen binnen eines Tages einen neuen Höchstwert, wie das Robert Koch-Institut (RKI) mitteilte - vor einer Woche waren 11.287 neue Fälle gemeldet worden.

Bund und Länder hatten am Mittwoch die einschneidendsten Maßnahmen seit dem großen Stilstand im Frühjahr beschlossen. Ab diesem Montag sollen unter anderem Restaurants, Kinos und Theater im gesamten November schließen. Hotels dürfen keine Touristen aufnehmen. Schulen, Kitas und der Einzelhandel sollen geöffnet bleiben. Merkel sagte, sie verstehe Frustration und Verzweiflung. Hygienekonzepte etwa in der Gastronomie seien nicht sinnlos gewesen. Im jetzigen starken Infektionsanstieg könnten sie aber nicht die nötige Wirkung entfalten. Viele Kontakte von Infizierten seien nicht zuzuordnen.

Die Kanzlerin rief die Bürger erneut zur Mitwirkung auf. „Halten wir uns an die Regeln, die jetzt gelten, dann helfen wir unserem Land und im Ergebnis jeder und jedem von uns, diese gewaltige Prüfung zu bestehen.“ Merkel betonte: „Kritische Debatte schwächt nicht die Demokratie, sie stärkt sie.“ Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass beschädigten aber nicht nur die Debatte, sondern auch den Kampf gegen das Virus. Was sich als wissenschaftlich falsch erwiesen habe, müsse klar benannt werden. Davon hingen auch Menschenleben ab.

Die große Mehrheit der Bürger unterstützt nach einer Umfrage die geplanten Maßnahmen oder wünscht sich sogar noch weitergehende Schritte, um die Corona-Pandemie wieder einzudämmen. In einer Forsa-Erhebung für RTL und ntv befürworteten 50 Prozent die von Bund und Ländern beschlossenen strikten Maßnahmen. Weiteren 16 Prozent der 1014 Befragten reichen sie noch nicht aus. Genau einem Drittel dagegen gehen sie zu weit.

Die insgesamt größte Akzeptanz findet mit 65 Prozent die Schließung von Sportstätten, die geringste mit 39 Prozent die von Gaststätten. Die Schließung von Kultureinrichtungen liegt dazwischen (55).

Die Opposition kritisierte den geplanten Teil-Lockdown und verlangte Parlamentsentscheidungen über Krisenmaßnahmen. FDP-Chef Christian Lindner sagte, Einschränkungen von Freiheitsrechten seien ohne Öffentlichkeit nur von den Regierungsspitzen von Bund und Ländern ergriffen worden. Nun sollten auch Bereiche schließen, die nicht als Infektionstreiber aufgefallen seien. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland sagte: „Wir haben in diesem Land die Freiheit zu mühselig errungen, als dass wir sie an der Garderobe eines Notstandskabinetts abgeben. Eine Corona-Diktatur auf Widerruf ist keine Lösung. Wir müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen sterben.“

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt forderte eine gemeinsame Entscheidung von Bundestag und Bundesrat. Die tiefgreifenden Beschränkungen gehörten „endlich auf solide gesetzgeberische Füße gestellt“. Linke-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali sagte, für die Akzeptanz der Maßnahmen sei es wesentlich besser, wenn die Debatte vor der Entscheidung im Bundestag stattfinde. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich verteidigte das Vorgehen: „Die Zeit, in der wir eine maximale Flexibilität der Exekutive benötigen, ist noch nicht vorbei“. Die befristeten Maßnahmen seien dringend erforderlich.

Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer warf Bund und Ländern „zu wenig Augenmaß“ vor. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf bezeichnete die Einschnitte als „sehr schmerzhaft“, äußerte aber auch Verständnis. „Der Politik liegt erkennbar daran, wirtschaftliche Aktivität weitestgehend am Laufen und die öffentlichen Einrichtungen offen zu halten.“ Finanzminister Olaf Scholz (SPD) stellte „massive, in dieser Größenordnung bisher unbekannte Unterstützungsleistungen“ in Aussicht. Da Schließungen in vielen Wirtschaftsbereichen auf wenige Wochen begrenzt seien, könne der Bund nun Hilfen von zehn Milliarden Euro stemmen.

Die Bundesärztekammer sprach von einer „wichtigen Notbremse, um den rasanten Anstieg der Infektionszahlen zu verlangsamen.“ Insbesondere die Offenhaltung von Kindertagesstätten und Schulen sei vertretbar und mit Blick auf die körperliche und mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen dringend geboten. Auch Intensivmediziner begrüßten die Beschränkungen. Mit einer gewissen Bremsspur seien hoffentlich sehr bald positive Effekte zu sehen, sagte der Chefarzt der Infektiologie in der München Klinik Schwabing, Clemens Wendtner.

Als erste Regierungen setzten die in Bayern und Hessen die Bund/Länder-Beschlüsse in Landesrecht um. Auch der Berliner Senat beschloss bereits weitreichende Beschränkungen. Wegen der steigenden Infektionszahlen erwägt Bayern wieder die Ausrufung des Katastrophenfalls, um die Verteilung der Intensivpatienten besser koordinieren zu können. In den nächsten Tagen könne dies notwendig werden, sagte Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Die von Corona besonders betroffene Stadt Augsburg zog die Umsetzung der eigentlich ab Montag geltenden Maßnahmen bereits auf Freitagabend vor.

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) sprach sich für weitergehende innerdeutsche Reisebeschränkungen aus, dabei gehe es um Gebiete mit mehr als 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen.

Die Berliner SPD sagte einen für Samstag geplanten Landesparteitag ab, bei dem Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh eigentlich als neue Doppelspitze gewählt werden sollten.

© dpa-infocom, dpa:201029-99-126420/8

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